
Italien hat den Einzug ins EM-Endspiel auf an Dramatik kaum mehr zu überbietende Art und Weise verpasst. Der große Außenseiter hatte die Sensation gegen Titelverteidiger England bereits vor Augen. Dann aber reihte sich bei den „Azzurre“ Unglück an Unglück, sodass die Italienerinnen am Ende eines denkwürdigen Abends in Genf im Tränenmeer versanken.
Da stand Emma Severini nun irgendwo im Nirgendwo auf dem Rasen des Stade de Genève und schaute mit verweinten Augen ins Nichts. Zumindest so lange, bevor die Mittelfeldakteurin ihr Gesicht im hellgrünen Trikot vergrub. Die 22-Jährige war nach dem Vorschlussrunden-Duell mit England untröstlich. Und fassungslos. Und vor allem: unendlich traurig.
Severini hätte zur italienischen Heldin werden können, wenn sie in der 86. Minute aus kurzer Distanz nach einem Eckstoß freistehend zum 2:0 abgestaubt hätte. Aber die kurz zuvor für Barbara Bonansea, der Torschützin zum 1:0, eingewechselte Spielerin von der AC Florenz scheiterte an Keeperin Hannah Hampton. Bald darauf fiel der Ausgleich, der England in die Verlängerung brachte. Und dort wurde Severini endgültig zum Unglücksraben, als sie Beth Mead im eigenen Strafraum zu Boden zog. Den fälligen Strafstoß verwandelte Chloe Kelly im Nachschuss zum 2:1-Erfolg der „Three Lionesses“.
Italien gegen die „Löwinnen“ mit dem Herz eines Löwen
Damit war das italienische Sommermärchen in der Schweiz beendet. So abrupt. So schmerzvoll. Und irgendwie gefühlt auch so ungerecht, hatten die „Azzurre“ doch so viel Schweiß und Herz auf dem Platz gelassen, bevor die Tränen über ihre Wangen kullerten. „Es gibt keine Worte, um die Emotionen zu beschreiben, die wir erlebt haben“, sagte der niedergeschlagene Trainer Andrea Soncin im „Rai“-Interview: „Wir hätten ein anderes Ende verdient gehabt.“
Mit dieser Analyse lag der 46-Jährige richtig. Und irgendwie auch falsch. Denn viel zum Spiel beigetragen hatte seine Mannschaft nicht. Mit dem am Brenner seit Jahrzehnten bewährten (und eigentlich überholten) Catenaccio versuchte sich der Außenseiter der individuellen Überlegenheit der Engländerinnen zu erwehren. Das sah natürlich nur bedingt hübsch aus, war aber gegen den lange im letzten Drittel des Feldes zu kompliziert agierenden Kontrahenten ein probates Rezept.
Und weil die „Azzurre“ gegen die „Löwinnen“ mit dem Herz eines Löwen kämpften und wirklich um jeden Millimeter des Rasens, um jeden Grashalm, kämpften, war Soncins Ansicht eben auch nicht ganz verkehrt, dass der Außenseiter ein „anderes Ende“ verdient gehabt hätte.
Die Italienerinnen sind nach dem Abpfiff untröstlich.
Bonansea nährt mit Führungstor Hoffnungen auf Sensation
Lange durfte der Mann mit dem weißen Hemd, der blauen Krawatte und dem gebräunten Haupt ohne Haare davon träumen, mit seiner Equipe ein weiteres Kapitel ihres Sommermärchens schreiben zu können. Nachdem die unverwüstliche Bonansea in ihrem 114. Länderspiel das 1:0 erzielt hatte, konnte die „Azzurre“ die Angriffswellen der Engländerinnen wieder und wieder brechen.
Mit jeder Minute, das war in den italienischen Gesichtern zu erkennen, wuchs der Glaube an die Sensation. Dann hatte Severini das 2:0 auf dem Fuß. Dass sie die Riesenchance vergab, schien zunächst irrelevant zu sein. Doch dann nahm die Tragödie 60 Sekunden vor dem Ende der siebenminütigen Nachspielzeit ihren Lauf. Die bis dahin fehlerfreie Keeperin Laura Giuliani wehrte eine Hereingabe vor die Füße von Michelle Agyemang ab, die zum Ausgleich traf.
Soncin: „So auszuscheiden tut weh“
Die Rolle der tragischen Heldin schien nun plötzlich für die frühere Bundesliga-Torhüterin vorbestimmt. Aber die einstige Ballfängerin des 1. FC Köln und SC Freiburg zeigte sich unbeeindruckt von ihrem Patzer und bewahrte ihr Team in der Verlängerung vor dem Rückstand. Dann dann kam Minute 118 und die verhängnisvolle Klammereinlage von Severini gegen Mead. Dass Giuliani den Strafstoß von Kelly zunächst abwehren konnte, bevor die Engländerin dann im Nachschuss erfolgreich war, passte zum italienischen Drama in Genf.
Italiens Coach Andrea Soncin sah einen aufopferungsvollen Kampf seines Teams.
Dem geplatzten Traum folgten Tränen. Sehr viele Tränen. Doch keine dieser Tränen war vergeblich vergossen, zeugten sie doch alle davon, was die „Azzurre“ geleistet hatten. „Die Spielerinnen sollen stolz darauf sein, was sie erreicht haben“, sagte Soncin. Er war sichtlich bemüht, in der bis dato schwersten Stunde seiner Amtszeit als Nationalcoach die Rolle des Trösters einzunehmen. Aus seinem Herzen konnte der 46-Jährige dann aber doch keine Mördergrube machen: „So auszuscheiden tut weh.“
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